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Past Fiction

Band 1

Ein neuer König

 

Buchbeschreibung:

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 Das Atlantis der Urzeit – sein Ende war der Anfang von allem.

 

 Eine Welt vor 75.000 Jahren mit Königen, Tyrannen, wilden Kreaturen, Schamanen, Kriegern und Albinos. Eine afrikanische Kultur im Einklang mit und abhängig von Vater Mond und Mutter Sonne, bedroht von innen und außen.

 

 Dem Krieger Arrom wird ein weißes Kind geboren, zur gleichen Zeit wird ein entferntes Dorf überfallen und ein Neugeborenes als einziges Überlebendes geraubt. Wenige Monde später beginnen die Vorbereitungen für das große Vollmondfest, auf dem ein neuer König gewählt wird und fast das Reich Mabel spaltet. Kurz darauf erhält Arrom zusammen mit einer Gruppe von Kriegern einen Auftrag, der ihn an die Grenzen seiner Kultur führt.

 

 Der Beginn einer alternativ historischen Saga in drei Bänden.

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Erstes Buch

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Kapitel 1

Kindesraub

 

 Vea reißt die Augen auf, ihre Pupillen bewegen sich, sie starrt in die Dunkelheit. Geräusche dringen durch die Lehmwand ihrer Rundhütte. Sie richtet ihren Oberkörper auf, ist sich nicht sicher, ob der anschwellende Lärm nicht ein Traum ist. Ein Schlag, Vea durchfährt ein Schreck, das Geflecht ihrer Hütte knirscht. Ein Geräusch schlägt neben ihr ein. Vea denkt nicht, möchte nicht wissen, was durch die Lehmwand kam. Ihre spitzen Finger ertasten an der vermuteten Stelle den scharfen Stein einer Speerspitze. Langsam entfernen sich ihre Finger, bewegen sich zusammen und auseinander, spüren eine klebende warme Flüssigkeit, dickflüssig.

 Blut, denkt sie, sie erwacht aus einem Schock oder Traum, der keiner ist. Ihr drei Monde altes Baby bewegt sich neben ihr, ein Laut verlässt die kleinen Lippen. Ein Laut, den nur Vea hört, außerhalb der Lehmwände brüllt ein grausamer Kampf. Augenblicklich erhellt sich ihre Hütte, Vea schaut hinauf, Flammen erwärmen ihr Gesicht. Glimmendes Stroh fällt vom Spitzdach. Reflexartig drückt Vea ihren Erstgeborenen an ihren Oberkörper, reißt das Fell vor dem Eingang weg. Sie rennt hinaus und stoppt nach einigen Schritten. Steht nackt mit ihrem Baby im Arm in der Mitte ihres Dorfes; sie war bereit, ihren Gefährten zu empfangen, wenn er von seiner Nachtwache zurückkehrt. Aus dem umgebenen Lärm hört Vea seine Rufe.

 »Vea, lauf, laaauf.«

 Vea rennt zwischen den Rundhütten ihres Dorfes; der Lärm der wütenden Feuer mischt sich mit Schreien und Kampflärm. Ihre schnellen Beine tragen sie, weichen den Eindringlingen aus, vorbei an Dorfbewohnern, mit denen sie diesen einst friedlichen Ort teilte und die tot auf dem Boden liegen. Vea lässt ihr Dorf hinter sich, entfernt sich vom Lärm, hinein in den Busch.

 Am Rand eines großen Busches, zwischen hohem Gras, sinkt sie in die Hocke. Der Kampflärm gleicht dem leisen Grollen eines entfernten Gewitters. Vea lockert ihre Umarmung, betrachtet im Schein von Vater Mond das friedliche Gesicht ihres Sohnes. Ein Knacken, Vea schaut auf, in einigen Schritten Entfernung entdeckt sie eine weibliche große Gestalt, nicht gedrungen wie die Angreifer. Ein laut geflüstertes

 »Hey« und mit einem Winken macht sie die Gestalt auf sich aufmerksam. Aufrecht, mit festem Schritt, nähert sich die weibliche Gestalt. Zwei Schritte vor ihr erkennt Vea im Licht von Vater Mond das Gesicht, mit der flachen Nase und den Wülsten über den Augenbrauen, ein Mischling. Ein kurzer Schrei verlässt Veas Kehle, sie fällt zur Seite, getroffen von einem Stein in der Hand des Mischlings. Ihr regloser Körper wird auf den Rücken gedreht, ihre Arme geöffnet.

 Die Schreie ihres Sohnes entfernen sich, in ihren feuchten Augen spiegelt sich das fast runde Antlitz von Vater Mond, dem sie einst für die Geburt ihres Sohnes dankte. An ihn richtet sie ihren letzten Gedanken.

 Vater Mond, achte auf meinen Sohn!

 

 

 

Kapitel 2

Geburt eines weißen Kindes

 

 Viele Tagesreisen entfernt richtet ein Krieger seinen Blick auf das Firmament. Die Regenzeit ist vorbei, keine Wolke trübt Vater Mond. An dessen Seite scharen sich die leuchtenden Feuerstellen der Ahnen. Zikaden begleiten die Nacht mit ihrem fortwährenden Zirpen. Ein heller Schmerzensschrei durchbricht das Zirpen, gefolgt von einem hechelnden Atem. Ein weiterer Aufschrei endet in einem Stöhnen. Das Zirpen gerät in den Hintergrund, übertönt von Schmerzensschreien. Arrom starrt mit wachen Augen auf seine Rundhütte mit dem spitz zulaufenden Grasdach, in der die Schreie verstummen. In seinen Armen regt sich sein schlafender Sohn Hagam. Bekleidet mit einem Lendenschurz steht Arrom auf, er ist ein Krieger und gewohnt, bei der Jagd in Geduld zu verharren. Doch eine Stille umgibt ihn, eine alles verschlingende Stille, in der Arrom die Zikaden nicht mehr hört. Ein Schrei erlöst ihn, bringt ihn zurück in die Welt. Der Schrei eines Neugeborenen, begleitet von kurzen Pausen des Atmens. Arroms breiter Mund öffnet sich, seine dunklen Lippen formen ein verkrampftes Lächeln. Eine dunkle Hand schiebt die Lederhaut vor dem Eingang beiseite, das Licht der Feuerstelle grellt hinaus.

 »Schnell, Erebe, berichte den Schamanen!« Ein leichter Wind streift über Arroms schwarze und zu zahlreichen Zöpfen geflochtenen Haare. Erebe tritt aus der Hütte heraus: eine junge Frau mit kahl geschorenem Kopf. Unbeachtet von Arrom setzt sich Erebes schlanker Körper in Richtung der Schamanenhöhle in Bewegung. Sie eilt an Arrom vorbei, die zwei weichen Teile ihres Lederschurzes gleiten zwischen ihren Beinen hin und her. Hume steht im Eingang der Hütte und schaut ihrer Tochter hinterher. Sie kleidet ebenfalls ein zweiteiliger Lederschurz um ihre fülligen Hüften. Als Zeichen dafür, dass sie Gefährtin ist, hängt an einem Lederband zwischen ihren üppigen dunklen Brüsten eine weiße, kegelförmige und faustgroße Muschel, das Tritonshorn. Sie schaut kurz zu ihrem Neffen Arrom, verdeckt erneut mit der Lederhaut den Eingang der Hütte. Das Schreien des Neugeborenen ist einem Schluchzen gewichen, dem einzigen Laut, der zwischen dem Zirpen der Zikaden aus der Hütte dringt. Zögerlich setzt Arrom zwei Schritte auf den sandigen Boden in Richtung seiner Behausung, bleibt erneut wie erstarrt stehen. Durch Arroms Kopf strömen unzählige Gedanken, er hört die Schritte erst, mit ihrem vorbeieilen. Erebe ist in Begleitung des Obersten Schamanen Amcha zurückgekehrt. Mit seinem Schamanenstab von dreiviertel Körpergröße drückt Amcha die Lederhaut zur Seite.

 »Amcha …?« Die Stimme von Hume erstirbt.

 »Lass mich sehen«, antwortet der Oberste Schamane mit seiner tiefen Stimme. Erebe schaut kurz zu Arrom, folgt in die Hütte, weicht den unverändert gebannt auf den Eingang starrenden Augen von Arrom aus. Arrom fließt das Blut in den Kopf, stürzt in eine Einsamkeit, die seine Gedanken und seinen Körper lähmt. Nur seine Zähne mahlen aufeinander, lassen die Muskeln an den Wangenknochen in Wellen unter seiner Haut hervortreten. Erneut scheint das Licht der Feuerstelle aus der Hütte in die Nacht. Amcha tritt gefolgt von Erebe und Hume hinaus. Hume bleibt vor der zurückfallenden Lederhaut stehen. Der Oberste Schamane geht auf Arrom zu, seinen Schamanenstab hält er nach vorn. Hält ihn auf seine eigene Weise, in dem sein Daumen in Verlängerung des Schamanenstabes zum Boden zeigt. Amcha baut sich vor Arrom auf, ist einen halben Kopf kleiner. Seinen bauchigen Körper bedeckt ein Gewand aus weißem Fell, schräg verknüpft hängt es über eine Schulter bis zu den Knien hinab. Aus einem kantigen Gesicht, dessen kahlgeschorene schwarze Kopfhaut im Licht von Vater Mond glänzt, schauen zwei kleine, runde Augen Arrom herausfordernd an.

 »Mutter Sonne und Vater Mond erwiesen dir eine große Ehre«, sagt Amcha mit einem tiefen Raunen seiner Stimme, holt Arrom aus seiner Einsamkeit.

 »Es ist ein gutes Zeichen, dass den Heth nach langer Zeit wieder ein weißes Kind geboren wurde. Einen Erstling der Kumesch hat Vater Mond dir heute Nacht geschenkt.« Arrom schaut Amcha ernst an, hat die Worte gehört, die seine Gedanken verwirren. Amcha tritt einen Schritt beiseite.

  »Begrüße deinen Sohn!«

 Arrom geht mit langsamem Schritt auf seine Hütte zu, die tremolierenden Schreie von Hume und Erebe begleiten ihn. Arrom hält mit beiden Händen den schlafenden Hagam fest, betritt gebückt seine Wohnstätte. Eine kleine Flamme flackert auf dem Boden der nahezu erloschenen Feuerstelle und erhellt schemenhaft die Hütte. Im flackernden Licht legt Arrom Hagam behutsam auf ein Fell und setzt sich neben seiner Gefährtin.

 Kamil liegt auf dem weichen Fell eines Kudus, ihres gemeinsamen Schlafplatzes. Arrom betrachtet ihr schönes makelloses Gesicht mit den sanft geschlossenen kleinen runden Augen und den vollen Lippen, auf denen ein Lächeln liegt, dass er so sehr liebt mit den kleinen Grübchen, die sich in ihre Wangen graben. Nichts an ihrem Gesicht erinnert mehr an die Schmerzen und Anstrengungen, seit Mutter Sonne unterging, sie scheint noch schöner zu sein. Sein Blick wandert weiter zu ihren kleinen Brüsten, sie stehen mit Milch prall gefüllt von ihrem Körper hervor, dazwischen auf ihrer dunklen Haut ein weißes Kind.

 Arrom erkennt das flaumhafte helle Haar auf einem Hinterkopf. Berührt mit seinen Fingern den kleinen Arm des schlafenden Neugeborenen, eine kleine Bewegung, das Kind lebt.

 Draußen wird es still, Schritte mit Stimmen entfernen sich, die letzte Flamme der kleinen Feuerstelle erlischt.

 Arrom verharrt im Sitzen, sein Blick auf Kamil und seinen weißen Sohn gerichtet, hinter seinem Rücken glimmt die Glut in der Mulde. Arrom wendet sich der Feuerstelle zu, entfacht mit kleinen Zweigen und mit Holzstücken die Glut zu neuem Licht. Alle schlafen weiter, niemand aus seiner Familie stört sich an dem hellen Schein. Arrom greift nach dem weißen Kind, hebt es empor, betrachtet es im Licht der Feuerstelle. Er hält ein weißes Bündel mit einem sich zögerlich öffnenden roten Mund vor sich, das anfängliche leise Wimmern steigert sich zu einem kraftvollen Brüllen. Der kleine Brustkorb hebt und senkt sich zwischen seinen Händen.

 »Was tust du?«, ertönt Kamils Stimme; die steht in krassem Gegensatz zu ihrem zuvor friedlichen Gesicht. Die Arme und Beine des Kindes zappeln in Arroms Händen. Der Kopf mit dem weit aufgerissenen Mund; die breite Nase mit den großen Nasenlöchern vermittelt den Eindruck, dass ein hineinschauen in den Kopf möglich sei. Mit zugepressten Augen ändert sich die Gesichtsfarbe von blass in Rot. Hagam erwacht, schlaftrunken misslingt es ihm, sich hinzusetzten und schreit ebenfalls.

 »Was tust du?«, wiederholt Kamil lauter. Ohne auf Kamil zu achten, betrachtet Arrom das Geschlecht seines Sohnes.

 »Gib ihn mir!« Kamil richtet sich auf, greift ihr weißes Kind, mit dem dunkelroten Kopf aus Arroms Händen. Legt ihn fest an ihre Brust, zieht schützend ihre Schulter hoch, zwei kleine Augen blinzeln Arrom gefährlich an. Arrom steht auf, greift einen Speer, geht hinaus in die Nacht. Hinter ihm kriecht der kleine Hagam auf allen vieren und weinend wie sein Bruder, zu seiner Mutter.

 

 

 

 

Kapitel 3

Arroms Ahnen

 

 Mutter Sonne steht fast am Zenit, die Hütte bietet kühlenden Schutz gegen die Hitze.

 »Wo warst du letzte Nacht?«, fragt Kamil, betrachtet ihren weißen Sohn beim Säugen, schüttelt mit einem Lächeln ihren Kopf. Die halblang gezwirbelten Zöpfe ihres schwarzen Deckhaares schwingen über den bis zu den Ohren kahl geschorenen Haaren. Spielend zieht Arrom seinen Sohn Hagam an den Armen nach oben. Hagam lacht, die von seiner Mutter geerbten Grübchen graben sich in seine Wangen. Arrom bleibt stumm, sitzt Kamil gegenüber auf der anderen Seite der Hütte, gegen die Lehmwand gelehnt.

 »Du solltest dir deinen Sohn bei Tageslicht betrachten und nicht im Schein einer Feuerstelle.« Kamil lächelt Arrom an und ihre Grübchen bohren sich tief in ihre Wangen. Arrom spürt ihren Blick, der ihn unterhalb der in gerader Linie gezwirbelten Zöpfe herausfordern. Er möchte ihr nicht antworten, noch in ihre Augen schauen.

 »Seinen Bruder kennst du schon. Deinen neuen Sohn solltest du nun auch kennen lernen.«

 »Sie sehen nicht aus wie Brüder«, erwidert Arrom mürrisch, spielt weiter mit dem fünfundzwanzig Monde älteren Hagam.

 »Doch, das tun sie«, erwidert Kamil gereizt, nimmt ihr weißes Neugeborenes von ihrer Brust, hält es hoch.

 »Sieh nur, sie haben das gleiche Kinn, dein breites Kinn.«

 Das weiße Neugeborene quengelt gegen die Wegnahme der Milchzufuhr.

 »Ja, aber sonst?«, Kamil schaut zu Arrom.

 »Was erwartest du, sie haben beide zwei Augen, eine Nase, einen Mund, zwei Arme, zwei Beine und das männliche Geschlecht. Alles ganz normal.« Kamil, drückt das Neugeborene erneut fest an ihre Brust, das findet sofort die Brustwarze.

 »Genau, ganz normal, bis auf seine weiße Haut und die hellen Haare … und die blauen Augen.«

 Die Lederhaut vor dem Eingang lichtet sich, Sonnenstrahlen fallen in die Hütte ein. Amcha betritt mit seinem massigen Körper die Hütte. Arrom schaut zur Seite, weicht dem Blick des Obersten Schamanen aus, vermutlich hat Amcha ihr Gespräch gehört. Arrom fürchtet das dritte, das sehende Auge der Schamanen. Es umschließt in Form eines doppelreihigen, fast geschlossenen Kreises aus dichten punktförmigen Narbenwülsten, beginnend an der Nasenwurzel, das rechte Auge.

 »Ich sehe, du bist eine gute Mutter und kümmerst dich um dein Kind, hast du bereits einen Namen für deinen Sohn?«

 Arrom möchte antworten, aber Amcha hat ihn nicht angesprochen, es ist die Aufgabe des Vaters, den Namen zu verkünden, und noch ist es zu früh. Kamil schaut verunsichert zu Amcha, der setzt sich neben ihr auf das Schlaflager.

 »Sabum, zu Ehren Arroms Onkel, wir waren uns noch nicht ganz einig, aber Hagam und Sabum«, sagt Kamil zögerlich, »zwei Brüder, genauso wie Arroms Vater und Onkel.« Zufrieden nickt Amcha, sein durchdringender Blick schweift zu Arrom. Amcha umfasst seinen Schamanenstab, richtet sich in der Hütte auf.

 »Eine gute Wahl, so soll es sein.« Erneut fällt sein Blick auf Arrom, der schaut zu Boden, scheint sich an Hagam in seinen Armen festzuhalten.

»Arrom, begleite mich«, sagt Amcha und verlässt die Hütte. Verschämt schaut Arrom in Kamils Augen.

 »Arrom« ruft Amcha. Schnell bindet Arrom seine langen geflochtenen Zöpfe hinter seinem Nacken mit einem Lederband zusammen, setzt Hagam zu Kamil und wendet sich ab.

 »Die Ohren. Sie haben auch die gleichen Ohren, deine Ohren mit dem angewachsenen Ohrläppchen«, ergänzt Kamil.

 Schweigend geht Amcha voran, Arrom folgt ihm, vorbei an den Hütten mit ihren spitzen Grasdächern. Einige stehen eng mit zugewandtem Eingang beieinander, andere mit weiterem Abstand, dazwischen werfen Schirmakazien Schatten. Nur wenige Kanis bewegen sich zwischen den Hütten, eine Schar Kinder läuft ihnen kreischend und lachend entgegen. Laufen zwischen ihnen vorbei, als sei die große Hitze zur Mitte des Tages nicht vorhanden.

 Sie erreichen einen kleinen steinigen Pfad. Arrom folgt Amcha den Steilhang hinauf, auf einem Pfad, zwischen wenigen grünen Büschen. Arroms Blick schweift hinüber auf den gegenüberliegenden Steilhang, der formt die andere Seite eines tiefen und breiten Tals. Auf halber Höhe des Hanges mündet der Pfad auf einer kleinen Ebene. Dort spannt sich in einem weiten Bogen der Eingang zur Schamanenhöhle, der wacht gleich einem Auge über die Kanis in der Stadt Kantis.

 »Sieh nur das weite Tal und in der Mitte fließt der breite Danatus.«

 Amcha zieht mit seinem Schamanenstab einen Bogen über das vor ihm liegende Tal mit den unzähligen dicht beieinanderstehenden Hütten.

 »Jeder fand seinen Platz.« Amcha deutet mit den gespreizten Fingern seiner ausgestreckten Hand auf die gegenüber liegende Seite, weiter dem Danatus Flussabseits folgend zum Ende von Kantis.

 »Dort leben die kleinen Chem, in der Mitte und nur hier in Kantis die weißen Kumesch und zu beiden Seiten des Danatus die Heth mit ihren Kriegern. Sie alle zusammen sind die Kanis mit ihren drei Kasten. Jeder fand seinen Platz und seine Aufgabe. Auch du wirst deinen Platz neu finden.«

 Amcha deutet mit seinem Schamanenstab.

 »Dort unten in der Nähe zu den Kumesch lasse ich dir eine neue größere Hütte bauen. Näher zu dem Wasser des Danatus, aber auch näher zu mir, damit ich nicht mehr soweit laufen muss. Denn ich besuche euch jetzt öfter.« Amcha lächelt, Arrom antwortet mit einem verwirrten Blick.

 »Denke dran, dir ist eine große Ehre und Verantwortung zuteilgeworden« Amcha schaut Arrom mit ernstem Blick direkt in die Augen, ein verunsicherndes, sich verstärkendes Gefühl steigt in Arrom auf. Noch nie schenkte der Oberste Schamane ihm eine solche Beachtung oder sprach viele Worte zu ihm. Arrom ist ein großer, kräftiger Krieger, doch gleicht sein Gefühlszustand dem eines kleinen Jungen.

 »Bereits seit Längerem beobachte ich dich. Und nun ist die Zeit gekommen, dass du deinen Ahnen begegnest. Du bist bereit.«

 Arrom nickt zögerlich, folgt dem vorausgehenden Amcha. Sie betreten die Höhle der Schamanen, vorbei an zwei Wächtern, den hellhäutigen Kumesch. Bis auf ihren geringeren Wuchs und ihrem hellen Äußerem gleichen sie den Kriegern. Der Blick von Arrom geht an den Wächtern vorbei, wechselt zu zwei jungen Schamanen der Heth, sie begrüßen ihn mit einem Kopfnicken. Beide tragen wie Amcha das über einer Schulter knielang hängende Gewand aus weißem Fell und halten eine brennende Fackel.

 Arrom folgt ihnen unsicher hinein in die weit verzweigte Schamanenhöhle. Nach wenigen Schritten dringt kein Tageslicht in den sich verjüngenden Höhlengang, nur die Fackeln der beiden jungen Schamanen erhellen den felsigen Gang. Noch nie zuvor befand sich Arrom in der Höhle der Schamanen, es war auch nie sein Wunsch. Nur die Schamanen selber haben freien Zutritt, selbst der König und die Mitglieder des Ältestenrates fragen um Erlaubnis. Niemand anderen ist es erlaubt um Erlaubnis zu fragen, sondern wird aufgefordert.

 Arrom bleibt wie die Schamanen stehen. Amcha wendet sich Arrom zu, führt ihn an den Schultern in eine kleine Ausbuchtung im Höhlengang, drückt ihn auf einen sitzhohen Stein nieder. Amcha holt tief und rhythmisch Luft, beginnt monoton zu sprechen. Arrom versteht ihn nicht, für seine Ohren spricht Amcha ein leises unverständliches Gemurmel. Mit weit aufgerissenen Augen schaut Arrom zu Amcha auf, und obwohl der seinen Blick erwidert, scheint der Oberste Schamane weit entrückt und seine Stimme für andere Ohren bestimmt. Amchas Hände berühren Arrom, an den Schultern beginnend wandern sie über die Oberarme bis zu den Händen. Anschließend vom Hals über den Oberkörper, weiter über die Beine bis zu den Füßen. Amcha stoppt sein unverständliches Gemurmel, hält den Kopf von Arrom fest zwischen seinen Händen.

 »Du bist bereit, deine Ahnen warten auf dich.« Die ersten Worte, die Arrom versteht. Amcha schaut ihm fest in die Augen und reicht ihm eine Tonschale mit einer Flüssigkeit.

 »Trink!«

 Arrom schmeckt ein bittersüßes Getränk, schluckt dessen feste Bestandteile würgend hinunter. Arrom wischt sich über den Mund, stellt die leere Schale auf den felsigen Boden zwischen seinen Füßen. Die Rasseln der beiden Schamanen erklingen, begleitet von einem tiefen Summen ihrer Stimmen, steigern sich zu einem melodischen Gesang. Sie singen die alten Lieder der ersten Kanis.

 Ein Kribbeln breitet sich langsam in Arroms Körper aus, sein Geist beginnt, sich von seinem Körper zu lösen. Er hört aus weiter Ferne die Stimme von Amcha, sieht in geheimnisvollen Zeichen dessen schemenhaften Hände vor seinem Körper. Die beiden jungen Schamanen stehen nicht mehr an Amchas Seite. Verschwommen erkennt Arrom an Amcha vorbei, dass sie mehrere große Steinbrocken zur Seite tragen. Amcha greift Arrom unter einen Arm, Arrom erhebt sich, glaubt selbst, leicht wie eine Feder zu sein.

 »Führt ihn durch den heiligen Gang der Geister und Ahnen!« Arrom empfindet tief in seinem Inneren einen Widerspruch in sich, aber seine Beine folgen nicht seinem Wunsch, sich abzuwenden. Die beiden jungen Schamanen stoßen Arrom in den dunklen heiligen Gang, unsicher gehorchen seine Beine dem fremden Willen. Von hinten wirft das flackernde Licht der Fackel Arroms Schatten tanzend voraus. Sein Körper folgt unsicher seinem eigenen Schatten. Sobald seine Beine das weitere Vorangehen versagen, stoßen Hände zu, treiben seinen stolpernden Körper weiter einem tiefen Schwarz entgegen: eingerahmt von den wenigen Felsen, ausgeleuchtet vom Licht der Fackel. Die halbrunde Decke wirkt auf Arrom bedrohlich, er hält seinen Körper leicht gebückt. Für ihn scheint der raue Felsen mit seinen wechselnden Schatten in Bewegung zu sein.

 Er erkennt unvermittelt Farben, helle Farben leuchten ihn vom Felsen an, sie stellen die Körper von Tieren dar. Augen starren ihn vom Felsen an. Augen von Antilopen, Büffeln, Giraffen und anderen Tieren. Allesamt Tiere, die er auf der Jagd erlegt hat und deren Geistern er jetzt begegnet. Er durchlebt erneut jede einzelne Jagd: angefangen bei dem Springhasen, den er auf seiner ersten Jagd mit seinem Onkel Sabum und dessen Sohn Mah aus einem Bau ausgrub und durch den Schlag mit der stumpfen Seite seiner Steinaxt tötete. Bis zu dem Zebra, das er erst vor wenigen Tagen mit seinem Speer getötet hat. Es sind lebendige Bilder vor Arroms Augen, er betritt die Geisterwelt der von ihm getöteten Tiere. Eine Geisterwelt senkt sich in ihn, die Zeit ist bedeutungslos.

 Allmählich treten die Geister der Tiere in den Hintergrund, aus Strichmännchen werden Personen, die ihn durchdringen. Es sind die Seelen der Ahnen, jene von Kriegern, Schamanen und Königen, auch solche, mit denen er nie eine Feuerstelle teilte und die viele Generationen vor ihm lebten. Er spürt die Anwesenheit seines Vaters Hagam und die seiner Mutter Sibai, die kurz vor der Zusammenführung mit Kamil verstarb. Tief dringen die Seelen in sein Unterbewusstsein ein, treten ungefiltert hervor, vermischen sich mit seinem Bewusstsein.

 Panik steigt in Arrom auf, ein Entkommen ist nicht möglich, seine Seele ist gefangen in der Welt der Geister und Ahnen. Sein willenloser Körper ist nur noch eine Hülle, vorangetrieben von den beiden Schamanen. Sein Körper sackt auf dem harten Felsen kraftlos zusammen. Augenblicke werden zu Ewigkeiten und Ewigkeiten zu Augenblicken, in denen die Geister der Tiere und die Seelen der Ahnen vor seinem inneren Auge in bunten, grellen und ständig wechselnden Bildern toben. Zeit- und Raumgefühl lösen sich auf.

 Aus weiter Ferne dringt ein gleichmäßiges Summen zu ihm durch, erst leise, dann stetig lauter. Es ist das Summen des Schamanenrates. Arrom ist über den Gang der Ahnen und Geister zum Ratssaal des Schamanenrats gelangt. Er liegt dort auf dem Rücken, in der Mitte des runden Ratssaals, über ihm wölbt sich der Felsen in einem hohen Bogen. Um ihn herum sitzen die zwölf Ratsschamanen auf von Fellen bedeckten und im Kreis stehenden Felsbrocken, unter ihnen Amcha, der Oberste Schamane. Sie sind Heiler und die Vermittler zu den Geistern, den Ahnen, Vater Mond, Mutter Sonne und dem Schöpfer Jabijarie.

 Als Gewandelte der Heth, Chem und Kumesch, beschränken sich ihre Besitzungen auf wenige persönliche Dinge. Keine Gefährtin teilt ihr Nachtlager und sie nennen keine Kinder ihr Eigen. Sie führen ein Dasein als Mittler zwischen Leben und Tod, entsagten den weltlichen Dingen. Das Summen der Ratsschamanen hält an, durch einen Durchbruch in der Mitte des hohen Gewölbes fällt das Licht von Mutter Sonne, formt einen Lichtkegel, nähert sich am Boden dem Körper von Arrom. Der Lichtkreis erreicht Arroms Füße, folgt den Beinen und gelangt über den Brustkorb zu seinem Kopf mit den geschlossenen Augenlidern. Die Bilder vor Arroms innerem Auge verschwinden, durch seine Augenlider dringt rotes Licht, er glaubt, mit Mutter Sonne zu verschmelzen.

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